6 · Bettgeflüster
Kalliope schloss leise die Zimmertür.
Warum es in ihrer Brust so heiß schmerzte, als sie Kiros Hand losließ, verstand sie nicht. Er war doch so nah bei ihr. Dennoch fühlte es sich an, als würden sich, mit jedem Schritt den er von ihr weg in die Mitte des Zimmers machte, ganze Welten zwischen sie drängen. Wie als wäre er ihre Sonne und das Zentrum ihres Himmelskörpers, zog sie eine Kraft – eine Gravitation – sofort wieder zu ihm.
Während die azurfarbenen Augen in den zahlreichen Malereien versanken, die die Wände ihres Zimmers schmückten, stahl sich ihre Hand wieder in die seine. Sie spürte, wie Kiro den Druck sanft erwiderte. Es machte sie glücklich. Mehr noch, ihre Atmung wurde schneller und sie fühlte ihren eigenen Pulsschlag sinnlich intensiv.
Sie schmeckte ihn auf ihren Lippen, spürte, wie er hinab in ihren Bauch purzelte. Dann noch weiter hinunter, zwischen ihre Oberschenkel, wo er ein wärmendes Feuer schürte. Er krabbelte bis in ihre Zehenspitzen, in denen er sie frech zu kitzeln begann.
Kiros Augen wanderten von einem Bild zum nächsten.
Er spürte, bei jedem einzelnen, den verlockenden Impuls in sich, darüber ganze Gedichtbände zu schreiben; die Gedanken seiner Muse selbst in Worte fassen zu können. Jeder Dichter dieser Welt würde dafür zweifelsohne seine Seele verkaufen! Für einen Wimpernschlag dieses Moments; um nur einen einzigen süßen Tropfen dieser Essenz der Intuition kosten zu dürfen; sich seine Feder von ihrer verheißenden Hand führen zu lassen.
Jedes dieser Ölgemälde, Pastellzeichnungen und Aquarelle zierte die schwungvolle Signatur der Inspiration höchst selbst:
Kali ... Kali ... Kali ...
Seine Aufmerksamkeit schwebte wie ein Blatt im Wind durch den Raum, bevor sie auf den weiten mintgrünen Waldseen zum Ruhen kam, die ihn aus dem schummrigen Halbdunkel ihrer Gemächer anleuchteten.
»Kali ...«, raunte der Junge Azur und ertastete ihre andere Hand im Schatten. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, aber ...«
»Pschscht ...« Ihr Zeigefinger legte sich auf seine Lippen. »Ich spüre es auch ...«, hauchte das Mädchen. Sie bewegte sich so nah an ihn heran, dass Kiro ihre weichen Brüste spürte. Ihre Nasen stupsten aneinander. Ein Kuss begann seine kurze Reise, nur noch verzögert durch ihre zarte Fingerspitze. Er schloss die Augen. Dennoch konnte er ihre Atmung, ihren Herzschlag, ihren Duft und ihr Verlangen sehen.
– Auf einem unbefleckten Stück schneeweißen Seidenpapiers. –
Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr kleiner Wachtposten seine Lippen endlich verließ. Er wollte sie! – Nichts anderes!
Seine Arme schlangen sich um ihre Taille und überbrachten diese Botschaft, indem sie ihren Körper fest an seinen pressten.
Der Wächter kapitulierte; gab den Weg frei. Ihr kunterbunter Fingernagel fuhr süßlich scharf über seine Unterlippe; ihr kissenweicher Mund gewährte die zärtlich verzeihende Erlösung.
Dann füllte Zeile für Zeile die Leere des Papiers des Schreibers.
Das sanfte Fallen ihres Kleides.
Der Klang der Schließe seines Gürtels.
Die Flucht aus hinderlichen Stoffen.
Des andern Atem heiß im Ohr.
Der Duft von nackter Haut an Haut.
Ein wortlos klarer Dialog.
Gier nach mehr, durch kleine Bisse.
Mehr als bloße Musenküsse.
Rhythmisch vereint: Azur und Mint.
Dem ersten süßen Schmerz entgegen.
(In Zeitgleichheit vereint ...
zwei sich unbekannte Herzen ...)
* * *
– im Salon –
»... soll heißen, dass du mir verzeihst?«
»Nennen wir es lieber einen widerruflichen Waffenstillstand. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, wer du gerade bist, Neko nenne ich dich ganz sicher nicht! Und dein Serva-Sein ... Auch wenn mir deine Augen etwas anderes vormachen wollen, weiß ich, dass da immer noch etwas von ihr tief in dir schlummert.«
»Dann Waffenstillstand. – Für Schwesterherz; für Liz.« Das Flammenkind streckte Amor die Hand entgegen, die dieser nur widerwillig kurz schüttelte, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Mit den Händen in den Taschen drehte er sich dem Kaminfeuer zu und verbarg somit das unwillkürliche Racheschmunzeln vor ihr. »Willst du nicht mal nach deinem Freund sehen?« – Das Schmunzeln verschwor sich mit einem stummen Kichern. – »Zeit für die Federn. Er wartet sicher schon auf dich.« – Schmunzeln und Kichern ließen gemeinsam Amors Zähne im Feuerschein aufleuchten. –
»Bestimmt ... Dann bis nachher.« Neko streckte gähnend, noch im Liegen, Arme und Beine kräftig und genussvoll durch, bevor sie ihr gemütliches Sitzmöbel gegen den Gang die Treppe rauf eintauschte.
Der im Flammenschein badende Herzensbrecher legte noch einen Scheit auf. Sich der Ironie bewusst, gab er den Flammen noch zusätzliches Futter, indem er einen großzügigen Schwall Lampenöl in sie goss.
Er spielte gerne mit dem Feuer.
* * *
– in Kalis Zimmer –
»Kiro ...?«
»Mmh ...?«
»Hältst du mich noch eine Weile so im Arm?«
Er drehte glücklich erschöpft seinen Kopf zu Kalliope und gab ihr ein Küsschen auf die Nasenspitze.
»Du bist süß.« Auch sie hatte die Augen bereits entspannt geschlossen. Mit den Nägeln fuhr sie verträumt über Kiros nackte Brust, während sie ihr Gesicht an dessen Hals und Schulter schmiegte. Sie genoss das sanfte Streicheln seiner Finger, die an ihrem Rücken unsichtbare Liebesgedichte auf ihre Haut malten. »Ich wünschte, dieser Augenblick könnte unendlich andauern.«
»Das tut er grade ... Nichts und niemand könnte ihn uns jemals ...«
Ein vorsichtiges Klopfen an der Tür verschloss diesen Gedanken, doch öffnete zwei überraschte Augenpaare.
»Kali ...? Schläfst du schon? – In welchem Zimmer is Kiro? Ich kann ihn nich finden«, war Nekos lautes Flüstern gedämpft zu vernehmen.
Beide hielten die Luft an. Verschiedenste Gedanken kullerten in zwei ganz auf Zweisamkeit gepolten Köpfen umher. In speziell Liebespaaren vorbehaltener Telepathie einigten sie sich auf denselben stillen Einfall: »Pscht! – Sie wird schon von allein wieder verschwinden.«
Nach zähen Sekunden entfernten sich die Schritte endlich von der Tür und trugen ihr enttäuschtes »Dann eben nich! Ich geh jetz penn'« mit sich davon. Irgendwo den Gang runter wurde, gereizt aber kraftlos, eine Tür ins Schloss geworfen.
Sämtliche Gedanken in Kiros Kopf, die mit »Was wär gewesen wenn ...« anfingen, wurden von Kalliopes erleichtertem Ausatmen, das ihn über den Hals kitzelte, sofort wieder davongeblasen. Der kalt-warme Lufthauch ließ ihn sich kurz unwillkürlich schütteln, was Kali wieder ihr freches, strahlendes Lächeln entlockte. Ein Lächeln, das von innerer Freiheit, tiefer Ehrlichkeit und ganzer Hingabe zeugte und ihr Gegenüber sofort mit sich ansteckte; ihn zu einem ihr völlig verfallenen Kuss verführte.
»Kiro, musst du wirklich mit ihr gehen? Kannst du nicht einfach bei mir bleiben? – Ich kann Chronos bestimmt davon überzeugen, dass er dich mitfliegen lässt. Lass Neko allein zu ihrer Schwester gehen. Amor passt doch auf sie auf. Ich könnte dir so lange was von meinem Staub geben, bis wir eine Lösung für dein Problem finden.« Ihre Hand umschloss seine dabei ganz fest.
»Ich kann nicht. Ich habe es ihr versprochen. Wenn ich auch sonst für nicht viel zu gebrauchen bin, aber ich stehe zu meinem Wort! Das ist eine der wenigen Eigenschaften an mir, auf die ich vielleicht stolz sein kann. Außerdem muss ich von ihrer Schwester erfahren, was ... was genau mein Schicksal ist, wenn es sowas überhaupt gibt. Sie, der Brief, Azur ... Der Weltuntergang? Einfach so? Ohne irgendeine Vorwarnung? Meine Welt wurde völlig auf den Kopf gestellt. Und jetzt ... jetzt auch noch du ...« – Seine Hand fand ihre Wange. – »Versteh mich bitte nicht falsch. Ich ... ich glaube, dass du mir jetzt schon unheimlich viel bedeutest und ich will ja gerne bei dir bleiben.
Aber irgendwie befürchte ich immer noch, dass ich jeden Augenblick wieder aus diesem Traum aufwachen könnte.
Und ich habe Angst davor ...
Angst, etwas zu verlieren, was noch nicht mal real sein könnte.
Klingt das nicht irgendwie total bescheuert?
»Ja, klingt es schon ein wenig, Hase.« – Ihr fragender Blick barg eine Vorankündigung in sich. – »Fühlen sich die hier ... vielleicht wie ein Traum an, mein Lieber?«
Kiro fühlte ihre samtweiche Haut; ihre, sich seiner Berührung erfreuenden, Brustwarzen.
Sie presste seine Hände so fest auf ihre Brüste, dass sie sich beinahe wieder zu etwas verleiten ließ.
Um ihre freche Lust etwas zu zähmen, half ihr kurz der süße Schmerz, den sie sich in die Unterlippe biss. – Sein liebevoller aber auch traurig ungläubiger Blick verlangte nach gewaltigeren Argumenten. –
Sie stibitzte ihm das dünne weiße Laken, das ohnehin kaum etwas von ihm verbarg, warf es sich über ihre Schultern und tänzelte auf ihren Zehen zur einzig kahlen Wand des Zimmers.
»Komm her zu mir, Schatz.« Sie streckte ihm eine lockende Hand entgegen. – Kiro folgte ihr und stellte sich neben sie vor die große dunkelgraue Fläche. – »Eigentlich dürfte ich das ganz und gar nicht tun. Aber ich weiß, dass es dir gefallen wird. Du brauchst etwas Realeres? Okay. Bist du bereit?« Sie zog ihn ganz nah an sich und hüllte ihn mit unter das Betttuch. Die freie Handfläche presste sie an die Wand.
Sofort erschien ein hellgrün leuchtendes, kreisrundes Bedienfeld darunter. Wie eine geübte Pianistin vollführten ihre Finger einen verspielten Tanz auf dem Tastendisplay.
Sie zog die Hand zurück und das Bedienfeld verschwand wieder.
Ein kurzes, dumpfes Wummern war zu hören, gefolgt von leisem Zahnradklickern, das im Verborgenen sein Werk verrichtete.
Dann löste sich die Verriegelung mit einem zischenden, eiskalten Luftstoß, der ihnen das leichte Laken davonwehte.
Die geteilte Wand glitt schwerfällig surrend in Decke und Boden.
Kiro hielt sich schützend eine Hand vor das Gesicht, als ihm ein intensives Hellblau durch den sich öffnenden Spalt in seine Augen stach. Dann wurde er, noch schmerzhaft blinzelnd, mit einem Male seiner Fähigkeiten: zu sprechen, zu atmen und seine Emotionen im Zaum zu halten beraubt.
Vor dem bedrohlichsten tiefenlosen Schwarz, dessen Gewicht er jemals auf sich lasten fühlte, schwebten Ozeane und Gebirge;
Lichtermeer-zerfressenes Grün und fiebertraum-getautes Weiß;
Licht und Schatten; Tag und Nacht – über der Heimat von Milliarden besiegelten Schicksalen.
Nichts sagend, nichts denkend; alles fühlend, alles begreifend.
So standen die Zwei noch minutenlang da. Hand in Hand, ihre nackte Haut in den vergehenden Blauschimmer einer ahnungslosen Welt getaucht. – Kiros Welt; die Wiege des Schlichters; Heimat von Azur.
Mit der ersten hemmungslosen Träne begriff er, ein für alle Mal, was ihm sein Spiegelbild offenbart hatte: Kiro musste sterben! – Kiro musste mit dieser Welt untergehen! Für Kiro durfte es keine Zukunft geben! Denn ohne dieses Opfer gäbe es keine für Azur. Zwei Seelen in einem Körper waren eine zu viel.
Mit der zweiten Träne verabschiedete sich Azur von Kiro mit einem Kuss. Einem Abschiedskuss.
Die dritte Träne trug einen blauen Funken in sich, der im Herabtropfen einen Vertrag unterschrieb. Eine Abmachung, die ein Spiegel ihm vorschlug, die in einem Obstgarten mit Blut und Feuer zu einem Pakt geworden war und nun, mit eben dieser Funkenträne, in einem unumstößlichen Manifest besiegelt wurde.
»Verstehst du nun, welche Dimensionen uns trennen werden, wenn du gehst?«
»Wir sind die ganze Zeit schon auf der ...?«
»Natürlich.«
»Aber es sollte doch erst morgen ...?«
»Chronos hat vorhin bereits die Triebwerke gestartet.«
»Entfernen wir uns von ...?«
»Ja, mein Liebster. Die Reise hat bereits begonnen. – Ich sollte euch nichts sagen.«
»Aber das Portal, das du ...«
»Ich habe es nicht stehlen müssen. Was glaubst du, wie ich es vorhin so schnell bekommen habe? Er hat es mir gegeben. Für euch. Er ist doch nicht auf den Kopf gefallen, Süßer. Er überlässt es euch. Allerdings ...«
»... ist es eine Fahrkarte in nur eine Richtung, oder?«
»Auch das dürfte ich dir nicht sagen. Und du musst mir versprechen, dass du Amor nichts davon sagst. Er muss sein Schicksal selber wählen dürfen. – Ja, du hast Recht. Die Entfernung wird nachher bereits zu groß für einen Sprung zurück sein. Für deine Bücher allemal. Deshalb will ich, dass du bei mir bleibst! Wir würden uns sonst wohl nie wieder sehen. Und ich habe ... ich hatte noch nie ...«
Ihre Stimme klang, als würde sie von ihrer Kehle gepackt, überwältigt und gefesselt werden. Doch die Worte fanden einen anderen Fluchtweg. Der Schlichter konnte es nicht sehen, denn sie senkte schnell den Kopf. Doch musste er es auch nicht, denn die Tropfen flehten bereits auf seinen Füßen.
Er nahm sie tröstend in den Arm ...,
– ... aus stolzem Mitleid. –
Kiro
wollte nicht, dass sie weint!
Kiro
hätte ihr wohl einfach die Tränen davongeküsst.
Kiro
hätte sich vermutlich in diesem Augenblick
dazu entschlossen, einfach bei ihr zu bleiben.
Kiro
hätte vermutet, dass das, was sie noch nie hatte,
ein Freund, ein Geliebter, ein treuer Gefährte war.
Krio
hätte mit aller Macht versucht,
für sie dieser Jemand zu sein.
~ ~ ~
Azur
kannte jedoch die Wahrheit. Das, was sie suchte, war
ein Schicksal, eine Zukunft, eine Daseinsberechtigung.
Azur
wusste, dass es egoistisch und töricht wäre, zu glauben,
dass er der Einzige sei, der ihr das geben konnte.
Azur
hatte sich bereits dazu entschlossen, zu gehen.
Azur
begriff, dass es falsch wäre, ihr ihre Tränen zu stehlen;
dass es ihr mehr half, sie befreiend weinen zu dürfen.
Azur
wollte, dass sie weint!
– Aus ehernem Mitgefühl ... –
... hob er ihr Kinn.
Stirn an Stirn gab er jedem ihrer glitzernden Fragmente der Einsamkeit lächelnd einen passenden Begleiter mit auf die Reise hinab zu ihren kunterbunten Zehenspitzen.
(T -55h:55m:00s)
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